
Seit Jahren nehmen die psychischen Belastungen in vielen Branchen und Berufsgruppen zu. Arbeitsverdichtung und Zeitdruck können zu Beanspruchung und anschließend Erkrankungen und Fehlzeiten führen. Innovative Konzepte der Arbeitsgestaltung müssen her, um psychosoziale Gesundheitsressourcen, Innovationskraft und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten dauerhaft zu stärken. Im Verbundprojekt InGeMo werden hierzu Konzepte und Methoden erarbeitet. Auf welche Art und Weise die betriebliche Gestaltungskompetenz von Führungskräften und Beschäftigten gefördert werden kann, berichtet uns Projektleiterin Dr. Anja Gerlmaier.
Das Projekt InGeMo möchte die betriebliche Gestaltungskompetenz stärken. Wie wichtig ist die organisationale Gestaltungskompetenz in der digitalisierten Arbeitswelt?
Anja Gerlmaier: Die organisationale Gestaltungskompetenz ist ein elementarer Schlüsselfaktor um gute Arbeit nachhaltig in den Betrieben zu implementieren. Wichtig ist hierbei, dass der Arbeitsschutz nicht nur auf die klassischen Arbeitsschutzakteure (z.B. Sicherheitsfachkräfte oder Betriebsräte) verschoben wird. Vielmehr müssen Beschäftigte und Führungskräfte insgesamt über Gestaltungskompetenz verfügen, um präventive Herausforderungen bewältigen zu können. Im Zuge der Digitalisierung können insbesondere psychische Belastungen entstehen. Unsere Studien zeigen allerdings, dass die betrieblichen Akteure aller Ebenen über wenig Gefahren- sowie Gestaltungswissen verfügen und das Problembewusstsein nur wenig ausgeprägt ist. Unter diesen Voraussetzungen ist der Austausch in Arbeitsschutzgremien erschwert. Dabei müssen sinnvolle Aktionen abgeleitet und durchgeführt werden, um benannte Herausforderungen in Zeiten der Digitalisierung mit Arbeitsgestaltung angehen zu können.
Welche Tools und Maßnahmen wurden im Projekt InGeMo entwickelt, um die betriebliche Gestaltungskompetenz zu fördern?
Anja Gerlmaier: Zum einen haben wir das sogenannte Stressquiz entwickelt. Mit Hilfe dieses webbasierten Selbstlerntools erfahren Beschäftigte, wie Stress entsteht und wie Belastung vermindert werden kann. Im Tool wird das Gestaltungswissen der Beschäftigten geschult sowie Rückmeldung gegeben, welche Punkte noch optimiert werden können. Außerdem haben wir mit „SePIAR“ ein Instrument entwickelt, dass die organisationale Gestaltungskompetenz von Teams und ihren Führungskräften stärkt. Hiermit können Gestaltungspotenziale und die Belastung im Team identifiziert werden. Im Rahmen von Workshops werden anhand der Belastungsschwerpunkte durchführbare Maßnahmen abgeleitet. Die Evaluation zeigt, dass mittels des Verfahrens Stress und Burnout vermindert sowie Arbeitszufriedenheit gestärkt wird. Auch weitere Arbeitsressourcen, wie z.B. das Führungsklima, die kollegiale Zusammenarbeit sowie die erlebte Zeitsouveränität haben sich verbessert. Gerade in Teams, die stark von digitalen Herausforderungen betroffen waren, hat sich dieses Konzept zur Förderung und Aktivierung von betrieblicher Gestaltungskompetenz als sehr förderlich erwiesen.
Das von Ihnen entwickelte integrative Qualifizierungskonzept SePIAR richtet sich an Teams und ihre Führungskräfte. Welchen Stellenwert messen Sie Führungskräften und deren Gestaltungskompetenz in einer digitalisierten Arbeitswelt bei?
Anja Gerlmaier: Führungskräfte sind eine ganz zentrale Stellgröße. In der Vergangenheit haben wir häufig Gesundheitszirkel durchgeführt, in denen Beschäftigte Gestaltungsideen vorschlagen, über die dann in Steuerungsgremien bzw. von Führungskräften entschieden wurde. Oftmals war die Akzeptanz für diese Ideen und die spätere Motivation zur Durchführung bei den Führungskräften nur gering. Deshalb existieren im SePIAR-Verfahren zwei parallel verlaufende Workshops. Sowohl Mitarbeiter als auch Führungskräfte durchlaufen jeweils einen Workshop, getrennt voneinander. Die Führungskräfte haben hier die Möglichkeit, Probleme und Belastungen ihrer Mitarbeiter sowie angemessene Bewältigungsstrategien zu erfahren. Außerdem können Führungskräfte Auskunft über die eigene psychische Belastung geben sowie Gestaltungsideen entwickeln. Am Ende werden sämtliche Gestaltungsideen von Führungskräften und Mitarbeitern zusammengeführt, um aufbauende Umsetzungsmaßnahmen zu entwickeln. Dieser kollektive Ansatz hat sich als sehr fruchtbar erwiesen. Grundvoraussetzung bleibt allerdings, dass bei den Führungskräften das Interesse besteht, die psychische Belastung im eigenen Arbeitsbereich abzubauen. Personalverantwortliche, denen das Thema Gesundheit und Prävention nicht wichtig ist, werden mit dem Konzept keine besseren Führungskräfte werden!
Die deutsche Konjunktur ist ins Stocken geraten. Wird im Falle einer Rezession zuerst an präventiven Maßnahmen gespart?
Anja Gerlmaier: Konjunktureinbrüche ziehen zumeist Kosteneinsparungen in Bereichen nach sich, die als nicht existentiell wichtig erachtet werden. Leider zählt hierzu auch meist die Prävention. Meine Erfahrung an der Stelle ist, dass Betriebe dann eher zur Kuration greifen. Das heißt, man holt sich erst Gestaltungsexperten in das Unternehmen, wenn man schon hohe Ausfälle durch Arbeitsunfähigkeitszeiten hat. Dann ist das Kind allerdings auch schon in den Brunnen gefallen. Das ist besonders schade insofern, dass viele Präventionsmaßnahmen keine großen Kosten bedeuten, sondern die Arbeitsorganisation betreffen. Laut unseren Studien lassen sich massive positive Effekte hinsichtlich Prozessoptimierung und Arbeitsabläufen und auch bei der Arbeitszufriedenheit sowie beim Erschöpfungserleben durch ganz einfache Methoden bewerkstelligen. Prävention bzw. präventives Handeln hat auch immer viel mit Nachhaltigkeit zu tun. Insbesondere in Zeiten von Konjunktureinbrüchen oder drohenden Rezessionen ist es wichtig die Beschäftigten durch Prävention gesund und motiviert zu halten. Man tut sich keinen Gefallen damit, nur betriebswirtschaftliche Zahlen anzuschauen. Vielmehr muss man sich bewusstmachen, wer hinter der Wertschöpfung steht und das ist immer noch der Mensch.
IAQ-Report: Was erhält gesund in der digitalen Produktion?
Dr. Anja Gerlmaier ist leitende Projektkoordinatorin am Institut für Arbeit und Qualfikation (IAQ) der Universität Dusiburg-Essen.
Das Interview führte Alexander Purbs.