
Viele Autoren identifizieren die Digitalisierung als ursächlich für neue Belastungen. Die Digitalisierung beschleunigt und verklompliziert die Arbeit der Beschäftigten, heißt es oft. Das Verbundprojekt Balanceguard möchte das Thema Stress bei der Arbeit fundiert untersuchen und hat hierzu ein intelligentes Stressmonitoring entwickelt. Details zum Stressmonitoring, Informationen zu weiterführenden Maßnahmen und Ihre Meinung zu webbasierten Assistenzsystemen in der Gesundheitsförderung verraten uns Kurt-Georg Ciesinger und André Michaelis.
Der digitale Wandel ist in sämtlichen Lebensbereichen ersichtlich. Was verändert sich für den Menschen als Individuum?
Kurt-Georg Ciesinger: Im Bereich Arbeit und Gesundheit, mit dem wir uns im Projekt BalanceGuard befasst haben, ist eine wesentliche Folge der Digitalisierung sicherlich die zunehmende Komplexität und Beschleunigung der Prozesse und die Entgrenzung von Arbeits- und Privatleben. Das erzeugt neue, schwer überschaubare Belastungsbündel, auf die Menschen auch noch höchst unterschiedlich reagieren.
André Michaelis: Wir als Kommunikationsagentur sind ja schon mitten drin im „digitalen Zeitalter“: Unsere Tools und unsere Prozesse sind seit Jahrzehnten digital. Ich kann das daher nur bestätigen: Man fühlt sich gestresst, man merkt, dass alle gestresst sind, aber kann das nicht an einem einzelnen Faktor festmachen. Von daher weiß man auch nicht so richtig, was man tun kann, weder als Betroffener noch als Arbeitgeber. Und Bewegung oder Obst am Arbeitsplatz ändern ja nichts an der Ursache von Stress.
Wie können Arbeitnehmer unterstützt werden, die Herausforderungen der digitalen Transformation gesund und erfolgreich zu bewältigen?
Kurt-Georg Ciesinger: Aus unserer Sicht ist es das Wichtigste, ein bisschen Ordnung in das Chaos der „Gesundheit bei der Arbeit“ zu bringen: Was macht am Arbeitsplatz und im Unternehmen eigentlich am meisten Stress und was können Arbeitgeber und Beschäftigte dagegen tun? Dazu muss man durch eine intelligente Ursachenanalyse „dem Stress auf den Grund gehen“ und die individuellen und betrieblichen Zusammenhänge von Belastung und Beanspruchung analysieren.
André Michaelis: Vor allem muss man das aber in einer Form tun, die auch wir als Unternehmer und unsere Beschäftigten verstehen können. Wir müssen ja gemeinsam lernen die Stressfaktoren zu finden und diese konkret anzugehen. Die Ergebnisse von Belastungs-/Beanspruchungsanalysen sind so lange wertlos, wie wir sie nicht intuitiv verstehen können.
Wie geht BalanceGuard die Sache an? Welche Methoden und Instrumente haben Sie entwickelt?
Kurt-Georg Ciesinger: Im Projekt BalanceGuard haben wir eine Methode entwickelt, um Stressentwicklung im Längsschnitt zu bewerten. Dazu geben die Teilnehmenden jeden Tag Einschätzungen über ihre Stressoren und Ressourcen und über ihr Befinden ab. So können wir die Zusammenhänge zwischen Belastung und Beanspruchung bestimmen – auf Ebene des Betriebs, aber auch für jeden Einzelnen. Man kann also überprüfen: Was genau macht mir eigentlich Stress? Oder: Welche Auswirkungen hat der Zeitdruck bei uns?
André Michaelis: Dazu stehen zwei Tools zur Verfügung: eine umfangreiche Webanwendung mit Namen BalanceGuard, die von der CompuGroup Medical entwickelt wurde, und DOSIMIRROR als stark vereinfachte Smartphone-App, die wir gemacht haben. Die Instrumente eignen sich für unterschiedliche Anwendungsfälle: Wo mehr Präzision gefragt ist, kann BalanceGuard angewendet werden; wo es vielleicht um die Sensibilisierung von Betrieben und Beschäftigten geht, reicht DOSIMIRROR. Das Grundprinzip beider Instrumente ist aber genau das Gleiche.
Gibt es weiterführende Angebote für die Beschäftigten, die über die Assistenzsysteme hinausgehen?
Kurt-Georg Ciesinger: Wir lassen weder die Beschäftigten, noch die Betriebe mit den Ergebnissen des Stressmonitorings allein. Über eine Experten-Hotline bieten wir den Teilnehmenden ein Coaching zu allen Themen der Gesundheit bei der Arbeit an. Die Unternehmen beraten wir bei der Umsetzung der Ergebnisse des Stressmonitorings im betrieblichen Gesundheitsmanagement. Und schließlich bilden wir auch betriebliche Gesundheitscoaches aus, die dann selbst Beratungen und Coachings in ihren Unternehmen durchführen können.
André Michaelis: Wir als GMF haben ja selbst das komplette Programm durchlaufen – und das hat sehr gut geklappt. Für ein kleines Unternehmen wie uns mit nur 16 Beschäftigten ist es sehr schwer, aus eigener Kraft ein BGM zu installieren. Aber mit den Tools und der externen Unterstützung durch Coaching, Beratung und Training ist das überhaupt kein Problem. Und auch die Kosten sind selbst für ein kleines Unternehmen wie uns tragbar, weil die Angebote professionell standardisiert und wirklich günstig sind.
Ist es nicht paradox, dass webbasierte Assistenzsysteme unter anderem zur Verringerung von digitalem Stress eingesetzt werden? Was ist Ihre Meinung?
André Michaelis: Stress wird bei mir nur produziert, wenn das Programm/die App keinen Spaß macht oder ich sie nicht verstehe. Das Gleiche passiert mit aber auch mit einen „analogen“ Fragebogen. DOSIMIRROR macht Spaß, ist einfach und unkompliziert in der Bedienung und deshalb funktioniert es sehr gut.
Kurt-Georg Ciesinger: Und wir bieten ja beim begleitenden Coaching durchaus „menschliche“ Unterstützung an. Das ist uns auch wichtig, denn persönliche Probleme der Beschäftigten können nicht durch künstliche Intelligenz gelöst werden. Finde ich zumindest.
Kurt-Georg Ciesinger ist Leitender Projektkoordinator bei der Deutschen Angestellten-Akademie. Er hat im Projekt BalanceGuard die Grundlagen der Stressmonitoring-App DOSIMIRROR entwickelt und ein begleitendes Coaching- und Beratungsangebot aufgebaut.
André Michaelis ist Kreativ Direktor und Geschäftsführer der Design- und Kommunikationsagentur GMF Gathmann Michaelis und Freunde in Essen. Er ist der technische Entwickler von DOSIMIRROR und hat das Gesamtangebot (Stressmonitoring, Coaching und Beratung) auch im eigenen Unternehmen erprobt.
Das Interview führte Alexander Purbs.