
Die aktuelle Arbeitswelt in Corona-Zeiten ist geprägt durch besondere Veränderungen und Einschnitte. Die meisten Geschäfte sind geschlossen, viele Menschen arbeiten derzeit im Homeoffice, sind von Kurzarbeit oder drohender Arbeitslosigkeit betroffen. Anders in der Pflege und im Gesundheitswesen, wo Arbeitsintensität und -anforderungen stetig steigen. Im Interview berichten Paul Fuchs-Frohnhofen (Koordinator des Projektes Pflege-Prävention 4.0) und Gerd Palm (Geschäftsführer der St. Gereon Seniorendienste, eines kirchlichen Komplexanbieters in der Altenpflege aus Hückelhoven bei Heinsberg) von den aktuellen Herausforderungen.
Das Thema Gesundheit treibt uns gerade alle um. Aber natürlich hat dies in der aktuellen Situation in der Pflege und im Gesundheitswesen besondere Relevanz. Wie sehen Sie die Lage in der Pflege?
Gerd Palm: Ich kann gerne auf die Situation in unseren Einrichtungen eingehen. Bisher haben wir in unseren 4 stationären Pflegeeinrichtungen nur mit wenigen (2) positiv getesteten Coronafällen zu tun. Diese wurden alle nach einem (nicht durch Corona bedingten) Krankenhausaufenthalt Corona-positiv in unsere Einrichtungen entlassen. Die Infektion erfolgte demnach wahrscheinlich im Krankenhaus. In unserem ambulanten Pflegedienst mit ca. 200 Kunden gab es bisher nur Verdachtsfälle: Kunden zeigten Symptome, eine Infektion mit dem Corona Virus hat sich allerdings nicht bestätigt.
Bisher ist es uns durch ein sehr stringentes Hygiene- und Schutzmanagement gelungen, eine Verbreitung des Virus in unseren Einrichtungen zu vermeiden. Wir wurden durch die zuständigen Gesundheitsämter ausreichend mit Schutzkleidung versorgt. Natürlich setzen wir die Anweisungen des Landes und der Kreise um. Es besteht eine Zugangsbeschränkung in unseren stationären Einrichtungen, d.h. Angehörige, BesucherInnen und auch TherapeutInnen oder ÄrztInnen haben keinen Zugang. Alternativ versuchen wir, dies durch Digitalisierungsansätze zu kompensieren. Neben Fensterbesuchen, Videoanrufen und dem Einsatz von Teletherapien (Logopädie) bieten wir auch Telemedizin zur Aufrechterhaltung der ärztlichen Versorgung an. Ebenso setzen wir einen Roboter (TEMI) der Firma Medisana zur Kontaktpflege der Bewohner nach außen ein. Unsere internen Physiotherapeuten versuchen, einiges aufzufangen und fördern die Bewegung und Kommunikation der BewohnerInnen sowohl intern als auch extern. Eine deutliche Ausweitung der sozialtherapeutischen Maßnahmen kompensiert die fehlenden sozialen Interaktionen so weit wie möglich.
Insgesamt herrscht in den Teams eine gute Stimmung. Wir stellen einen deutlich stärkeren Zusammenhalt unter den Mitarbeitenden fest, auch Bereichs- bzw. funktionsübergreifend.
Wo sehen Sie derzeit die größten Herausforderungen für Beschäftigte in der Pflege?
Gerd Palm: Die größte Herausforderung besteht darin, vorherrschende Defizite vieler Organisationen im Bereich mitarbeiterorientierter Arbeitsplatzgestaltung auszugleichen und schon bestehende Personalengpässe zu kompensieren. Plötzlich werden die Versäumnisse der letzten Jahre noch relevanter und brisanter. Ich kann mir vorstellen, dass es da nochmal zu einer deutlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen und der Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter kommt. In der Krise ist es oft zu spät, das Ruder rumzureißen. Organisatorische, personelle und managerielle Defizite werden deutlicher und können nicht kompensiert werden.
Paul Fuchs-Frohnhofen: Andererseits sieht man, dass Einrichtungen, die sich bemüht haben, arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse umzusetzen - wie sie z.B. in dem Projekt Pflege-Prävention 4.0 erarbeitet wurden -, auch in der jetzigen Krisensituation besser aufgestellt sind.
Neben den körperlichen Anforderungen und Gefährdungen stellt die aktuelle Situation in Krankenhäusern, Pflege- und Altenheimen auch eine psychische Belastung dar. Was brauchen Beschäftigte in der Pflege, um sich zu schützen bzw. um gesund zu bleiben?
Gerd Palm: Ich denke in erster Linie sind neue, der Situation angepasste Strukturen seitens der Organisation von Nöten. Es muss eindeutige Verfahren zum Schutz der Mitarbeitenden und für den Umgang mit den unterschiedlichen Konstellationen (Corona positiv, Symptomträger, Krankenhausrückkehrer oder Neueinzug) geben. Es ist zu vermeiden, dass jede Situation im Team problematisiert und immer wieder neu bewertet werden muss. Neue Routinen müssen in der Organisation etabliert und aufgebaut werden, damit die Mitarbeitenden sich einer kreativen Pflege und Versorgung der BewohnerInnen widmen können.
Derzeit haben wir ausreichend Schutzmaterialien für die Mitarbeitenden. Sie kennen sich hinsichtlich des Verfahrens bereits aus, da es sich um ein ähnliches Selbst- und Umgebungsschutzverfahren wie bei MRSA handelt.
Eine ausgeprägte psychische Belastung ist derzeit nicht zu beobachten. Die Stimmung ist gut und die Situation schweißt die Mitarbeitenden eher zusammen. Gemeinsam die Krise bewältigen steht im Focus. Überforderungstendenzen sind bei uns in der Organisation (noch) nicht zu beobachten. Dies liegt aber mit Sicherheit auch daran, dass es bisher keine nennenswerten Personalausfälle gibt.
Kurz gesagt, es entwickeln und etablieren sich derzeit neue, an Corona angepasste, Arbeitsabläufe. Es fühlt sich so an, dass sich langsam eine neue Routine einspielt. Insgesamt überwiegen Loyalität, Engagement und gegenseitige Unterstützung.
Welche Erkenntnisse aus den Verbundprojekten des Förderschwerpunktes (speziell auch aus Ihrer Fokusgruppe „Pflege“) könnten hilfreich sein, um Beschäftigte in der Pflege und im Gesundheitswesen zu unterstützen?
Paul Fuchs-Frohnhofen: Die folgende Tabelle zeigt förderliche Ansätze zum Umgang mit Krisen (wie Corona) in einer Einrichtung auf und bezieht Erkenntnisse aus den Modellprojekten mit ein.
Tabelle 1: Produktive Umgangsweisen mit Krisen in stationären Pflegeeinrichtungen (Paul Fuchs-Frohnhofen, 2020 angeregt durch: Rulofs, S. (2020): Vor die Lage kommen - Impulse für eine Erweiterung des Handlungsrepertoires in Krisensituationen; OrganisationsEntwicklung Nr. 1, S. 9-15, Düsseldorf).
Was müssen wir aus der aktuellen Situation für die zukünftige Gestaltung der Arbeit lernen? Wo sehen Sie sinnvolle Ansätze für Forschung, Politik und Gesellschaft?
Gerd Palm: Das Thema Digitalisierung ist enorm wichtig. Ansätze wie Telemedizin, digitale Kommunikation, Blended Learning, Homeoffice und Robotik spielen eine immer größere Rolle. Diese sind auch bei uns im Einsatz und haben ihren festen Platz in der Organisation und in den Arbeitsabläufen der Mitarbeitenden gefunden. Auch im Bereich der Arbeitszeitflexibilisierung haben wir von unseren bestehenden organisationalen Regelungen profitiert. Dies hatte natürlich auch einen hohen Stellenwert hinsichtlich der psychischen Belastung der Mitarbeitenden. Die Strukturen und die organisationale Haltung (auch bei den Führungskräften) waren gegeben, um die Mitarbeitenden mit den passenden Arbeitszeitmodellen zu versorgen.
Das Image der Pflege ist gestiegen. Dies merkt man an dem Maß an Aufmerksamkeit und Unterstützung, die den pflegerischen Unternehmen zu Teil wurde. Sachspenden, Süßigkeiten und natürlich die Einmalzahlung tun den Pflegekräften, als „Helden des Alltags“, gut.
Paul Fuchs-Frohnhofen: Die Wertschätzung der Pflegearbeit sollte ein langfristiges Thema der Politik sein. Dabei geht es neben der gesellschaftlichen Wertschätzung auch um gute Arbeitsbedingungen, gute Personalausstattung und gute Löhne. Zu guten Arbeitsbedingungen gehört neben einer wertschätzenden und partizipativen Unternehmenskultur in den Einrichtungen auch die technische Ausstattung der Einrichtungen, sowohl auf der digitalen Seite aber auch mit Schutz- und Hygienematerialien. Es muss gelingen, dass die gesellschaftliche Wertschätzung auch dazu führt, dass diese Anforderungen bezahlt werden können. Privatwirtschaftliche Gewinnmaximierungsstrategien gerade großer Konzerne in der Pflegebranche sollten kritisch überdacht und die Gemeinwohlorientierung im Vordergrund stehen.
Das Interview führten Nadine Seiferling & Simone Brandstädter