Interdisziplinarität im Arbeits- und Gesundheitsschutz

zwei Frauen arbeiten zusammen am Laptop

Unsere aktuelle Lebensrealität macht uns deutlich, wie wichtig es in vielen Bereichen ist, dass die Zusammenarbeit verschiedener Fachdisziplinen gut funktioniert. Neue Arbeitsformen, Home-Office, hybrides und digitales Arbeiten sind nur einige Herausforderung für den Arbeits- und Gesundheitsschutz und müssen differenziert aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden.

Welche Schwierigkeiten sich bei interdisziplinärer Zusammenarbeit ergeben und wie diese gemeistert werden können, haben wir Frau Rothe, Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, im Interview gefragt.

 

Frau Rothe, die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin forscht für eine sichere, gesunde und menschengerechte Arbeitswelt. Weshalb ist eine interdisziplinäre Denkweise besonders im Arbeits- und Gesundheitsschutz relevant?
Isabel Rothe: Eine interdisziplinäre Betrachtung ist unbedingt notwendig, denn wir haben es mit vielen unterschiedlichen Faktoren zu tun, die eine Arbeitssituation charakterisieren: Mit Aufgabenmerkmalen, wie Handlungsspielraum oder Arbeitsintensität, mit Arbeitszeit- und Pausenregelungen, mit Umgebungsfaktoren, wie Lärm oder Licht, mit ergonomischen Faktoren, möglichen stofflichen Expositionen, mit psychosozialen Bedingungen, wie dem kollegialen Miteinander oder mit betrieblichen Restrukturierungsprozessen.

Diese Faktoren stehen nicht zusammenhangslos nebeneinander, sondern deren Wechselwirkungen sind von großer Bedeutung; wie zum Beispiel zwischen Lärm und der Anforderung, konzentriert zu arbeiten. Und wir müssen kurzfristige und langfristige Folgen auf den arbeitenden Menschen verstehen, und auch Erkrankungssituationen hinsichtlich möglicher Risikokonstellationen am Arbeitsplatz analysieren. Und nicht zuletzt geht es um Gestaltung und Präventionsmaßnahmen und um entsprechende übergreifende betriebliche Prozesse. All dies erfordert vielfältige Expertise und eine enge Verzahnung sehr unterschiedlicher Disziplinen.

In der BAuA arbeiten MitarbeiterInnen aus verschiedenen Fachdisziplinen zusammen. Wie gehen Sie mit den Herausforderungen um? Welche Tipps haben Sie für jemanden, der noch keine Erfahrung mit interdisziplinärer Zusammenarbeit hat?
Isabel Rothe: Generell ist es wichtig, viel Zeit zu investieren, um sich auszutauschen, methodische Zugänge zu erläutern, die jeweiligen fachlichen Annahmen und Modelle nachzuvollziehen. Wir organisieren hierzu regelmäßig systematische Foren, wie zum Beispiel in unseren internen Hauskolloquien, bei denen wir ein gemeinsames Thema, zum Beispiel die Gefährdungsbeurteilung, aus verschiedenen fachlichen Perspektiven betrachten und diskutieren. Solche Austauschprozesse sind genauso in gemeinsame Projekte oder die Erarbeitung gemeinsamer Produkte, wie zum Beispiel übergreifende Veröffentlichungen, integriert.

Ich persönlich habe die Erfahrung gemacht, dass es in der interdisziplinären Zusammenarbeit vor allem darauf ankommt, dass man gemeinsame Ziele verfolgt, zum Beispiel konkrete arbeitsbezogene Gestaltungslösungen miteinander entwickelt oder Forschungen vorantreibt. Dann macht der Verständigungsprozess richtig Sinn und wird von allen Beteiligten gut vorangetrieben.

Die BAuA forscht zu Themen, die gerade auch für die betriebliche Praxis von Bedeutung sind. Wo wünschen Sie sich mehr interdisziplinären Austausch? Wie gelingt ein Wissenstransfer in die Praxis?
Isabel Rothe:
  Für einen guten Transfer ist es notwendig, über aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu Standards guter Arbeit zu verfügen und diese praxisgerecht aufzubereiten. Konkrete tätigkeitsbezogene Beispiele sind dabei in der Regel hilfreich; von besonderer Bedeutung ist es aber, den Akteuren vor Ort Instrumente in die Hand zu geben, mit denen sie ihre jeweils konkreten Arbeitsbedingungen selbst ganzheitlich betrachten und gestalten können.

Wir haben in der BAuA seit einigen Jahren begonnen, systematischer in die betriebliche Umsetzung zu schauen, um mehr über betriebliche Gestaltungsprozesse zu lernen: wie sie konkret funktionieren, welche Akteure maßgebliche Rollen einnehmen, welche Vorgehensweisen in der betrieblichen Anwendung besonders erfolgreich sind.  Dieses Prozesswissen mit Standards guter Arbeit zu verbinden ist letztlich der Schlüssel zu guter Arbeitsgestaltung.

 

Isabel Rothe steht seit 1. November 2007 an der Spitze der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Sie studierte Arbeits- und Organisationspsychologie an der Technischen Universität Berlin. Nach ihrem Abschluss 1989 war Isabel Rothe in der Beratung für Arbeits- und Technikgestaltung tätig. 1992 erfolgte ein Wechsel zur Schering AG, bei der sie zuletzt als kaufmännische Leiterin des Berliner Produktionsstandortes wirkte. Anfang 2004 übernahm Isabel Rothe dann die Geschäftsführung der Jenapharm. Ende 2007 wurde sie zur Präsidentin der BAuA ernannt.

Das Interview führte Simone Brandstädter

Foto © Sylwia Wisbar