
In Zeiten der digitalen Transformation und des demografischen Wandels sind Personal- und Gesundheitsmanagement mehr denn je gefragt, um Kompetenz, Motivation und Gesundheit der Beschäftigten langfristig zu erhalten und zu fördern. Sechs Jahre lang erforschten Arbeitspsycholog*innen der Universität Heidelberg im Projekt „Maßnahmen und Empfehlungen für die gesunde Arbeit von morgen“ (MEgA), wie eine solche zukunftsfähige Arbeit gestaltet werden kann. Im Interview berichtet uns Prof. Dr. Karlheinz Sonntag, Leiter dieses BMBF-Projektes und Seniorprofessor für Arbeitsforschung und Organisationsgestaltung an der Universität Heidelberg, über seine Erfahrungen und die wichtigsten Befunde im Projekt, in welchen Bereichen weiterer Forschungsbedarf besteht und wie es mit den Erkenntnissen aus dem Projekt weitergeht.
Wie würden Sie das Resümee zum Projektabschluss in einem Satz beschreiben?
Karlheinz Sonntag: Mit dem Projekt MEgA ist es gelungen, Beschäftigte und Unternehmen bei der Bewältigung der digitalen Transformation und des demografischen Wandels mit praxiserprobten Tools und Konzepten zu unterstützen, fundierte Erkenntnisse zu hybriden ortsflexiblen Arbeitsformen (Homeoffice) zu gewinnen und zentrale Gestaltungspotentiale moderner Arbeit festzuschreiben.
Was sind die drei wichtigsten Erkenntnisse des Projektes?
Karlheinz Sonntag: Erstens wurden in 6-jähriger intensiver Forschungsarbeit zwischen betrieblicher Praxis und Arbeitsforschenden evidenzbasierte Konzepte und Instrumente entwickelt und in der Praxis erfolgreich eingesetzt. In 30 Projekten wurden vielfältige Instrumente und Methoden zur präventiven Arbeitsgestaltung, Förderung der Gesundheit und Kompetenzentwicklung erprobt wie bspw. Assistenzsysteme, Mensch-Roboter-Kollaboration, Simulation von gesundheitsförderlichen Arbeitssystemen, Serious-Games-basierte Lernumgebungen, Analysetechniken und Instrumente zur Erfassung der psychischen Belastung am Arbeitsplatz oder webbasierte Trainings und Coachings.
Zweitens wurden differenzierte Bedarfsanalysen sowohl in Wirtschaft als auch im Öffentlichen Dienst (Bundesverwaltung) für ein modernes, präventiv ausgerichtetes Personal- und Gesundheitsmanagement durchgeführt. Auf dieser Grundlage wurden 4 zentrale Gestaltungsfelder moderner Arbeit für eine gelingende digitale Transformation abgeleitet:
Gestaltungsfeld I: „Veränderungsprozesse und Führungsverhalten in einem dynamischen Umfeld“ bezieht sich auf Maßnahmen zur Einleitung von Veränderungsprozessen, zum Aufbrechen von Routinen und Abbau bürokratischer Hürden, auf proaktives Handeln bei der Implementierung orts- und zeitflexibler Arbeitsformen sowie die Etablierung einer neuen Führungskultur.
Gestaltungsfeld II: „Personalmanagement – strategisch ausgerichtet“ verfolgt das Ziel der Förderung und Bereitstellung von Kompetenzen und Potentialen von Fach- und Führungskräften, um auf aktuelle und dynamische Entwicklungen zeitnah und erfolgreich reagieren zu können.
Gestaltungsfeld III: „Gesundheitsmanagement – nachhaltig betreiben“. Hier ist die deutliche Zielsetzung eine strategische und funktionale Einbindung der Gesundheitsförderung in die personalpolitische Entscheidungsebene. Es gilt, den Präventionsgedanken sichtbar zu machen und eine Kultur gesundheitsförderlichen Verhaltens der Organisationsmitglieder*innen zu etablieren.
Gestaltungsfeld IV: „Homeoffice-Tätigkeiten – gesund und produktiv gestalten“. Bei diesem hochaktuellen Ziel soll sicheres, gesundheitsförderliches und produktives Arbeiten im Homeoffice gewährleistet werden, bei gleichzeitiger Stärkung der Teambildung und Bindung der Fach- und Führungskräfte an die Organisation.
Eine gelingende digitale Transformation vor dem Hintergrund des demografischen Wandels wird allerdings nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn im Sinne einer „konzertierten Aktion“ alle vier der genannten Gestaltungsfelder wirkungsvoll und gemeinsam bei der Gestaltung moderner Arbeitsformen umgesetzt werden.
Drittens zeugen sämtliche durchgeführten Bedarfsanalysen, entwickelten Konzepte und erprobte Maßnahmen von einer intensiven und erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen den Arbeitsforschenden und der betrieblichen/behördlichen Praxis sowie den unterstützenden Kooperationspartnern in den Verbundprojekten. An den 30 Verbundprojekten waren insgesamt 64 Unternehmen (Kleine und mittlere Unternehmen: 41, Große Unternehmen: 23), 43 Hochschulen, 16 Forschungsinstitute sowie 31 Akteure im Arbeits- und Gesundheitsschutz (z. B. Berufsgenossenschaften, Sozialpartner, Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) beteiligt. Die Forschungsarbeiten wurden branchenübergreifend in der Metall- und Elektroindustrie, dem Maschinen- und Werkzeugbau, in IT- und Logistikunternehmen, im Energiesektor und im Dienstleistungsbereich (Handel, Beratung, Pflege, Medizin) durchgeführt. Ab Juni 2020 wurde das Untersuchungsfeld auf die Bundesverwaltung (obere und oberste Bundesbehörden) ausgeweitet.
Hervorzuheben ist die wohlwollende Unterstützung der Vertreter*innen der Förderinstanz BMBF, Herrn Dr. Bode und Herrn Dr. Krassen, und des Projektträgers PTKA vertreten durch Herrn Dr. Lucumi und Frau Dr. Zevaco. Es ist mir ein großes Anliegen, mich bei den Arbeitsforscherinnen und -forschern und den Vertreter*innen aus der Praxis für die produktive Zusammenarbeit in den einzelnen Projekten zu bedanken.
Wo besteht noch weiterer Forschungsbedarf?
Karlheinz Sonntag: Auf Grundlage fundierter Bedarfsanalysen wurden die oben genannten vier zentralen Gestaltungsfelder formuliert. Für die dort jeweilig aufgeführten und empfohlenen Maßnahmen besteht deutlicher Forschungsbedarf:
In Gestaltungsfeld I bspw. ist die Erprobung eines transformativen und gesundheitsförderlichen Führungsstils für das Fach- und Führungspersonals angezeigt, soll die digitale Transformation für die Beschäftigten in der Bundesverwaltung beanspruchungsoptimal und motivierend bewältigt werden. Internationale Studien haben die Vorteile dieses Führungsverhaltens bei der Implementierung von Veränderungen vielfältig belegt.
In Gestaltungsfeld II sind bspw. Trainings zu entwickeln und zu evaluieren, die die individuellen Voraussetzungen der Beschäftigten (bspw. Alter und Vorkenntnisse) bei der Förderung von fachlichen (Umgang mit IT Technologien) und überfachlichen (bspw. Selbstregulationsfähigkeit, Veränderungs- und Lernbereitschaft) Kompetenzen berücksichtigen, um Überforderungen bei der Aufgabenbewältigung zu vermeiden.
In Gestaltungsfeld III sind bspw. Leitfäden und Checklisten zu erproben, die helfen, eine beanspruchungsoptimale digitale Kommunikationskultur zu erreichen und so die Flut überflüssiger, irrelevanter Informationen zu reduzieren. Auch sind Maßnahmen der Akzeptanzerhöhung zur Durchführung psychischer Gefährdungsbeurteilungen dringend angezeigt.
Gerade hinsichtlich der erfolgreichen Gestaltung orts- und zeitflexibler Arbeitsformen (insb. für Homeoffice Tätigkeiten) besteht im Gestaltungsfeld IV noch weiterer Forschungsbedarf. So ist bspw. ein Screeningverfahren zu entwickeln und zu erproben, das aufwandsökonomisch ein sicheres, gesundheitsförderliches und produktives Arbeiten im Homeoffice ermöglicht und hilft, differenziert personale, technische und organisatorische Interventionen umzusetzen.
Auch wären insgesamt Vergleichsuntersuchungen von Interesse, inwieweit sich bestimmten Methoden und Instrumente bei der Nutzung im Wirtschaft-, Dienstleistungs- und Verwaltungsbereich unterscheiden, um ggf. Modifikationen und Anpassungen für bereits vorhandene Tools zu ermöglichen.
Was geschieht mit den Befunden und Produkten nach Abschluss des Projektes?
Karlheinz Sonntag: Es wäre den beteiligten Projekten und ihren Forscher*innen zu wünschen, dass die zahlreichen Instrumente, die in der Toolbox abgelegt und über die Website abrufbar sind, eine große Nachfrage und Verbreitung erfahren. Diese Konzepte, Instrumente und Methoden sind gedacht für die Verantwortlichen im Personal- und Gesundheitsmanagement bei der konkreten Gestaltung moderner Arbeit in ihren jeweiligen Organisationen.
Die entwickelten Projekte sind das beste Beispiel einer gelungenen Arbeitsforschung in dem Sinne, dass auf grundlagenbasierter Forschung ein hoher Transfer in den betrieblichen Alltag erfolgt. Nur so wird es möglich sein, eine evidenzbasierte Arbeitsforschung erfolgreich zu betreiben, die dem unmittelbaren Nutzen der in den Organisationen beschäftigten Fach- und Führungskräften dient. Erst dann wird der Präventionsaspekt bei der Gestaltung moderner Arbeitsformen wirksam, d. h. gesundheitliche Risiken am Arbeitsplatz werden vermieden, gesundheitsrelevante Arbeitsbedingungen gestaltet und so eine Stärkung individueller, organisationaler und sozialer Ressourcen und Schutzfaktoren erreicht.
Prof. Dr. Karlheinz Sonntag ist Seniorprofessor der Abteilung „Arbeitsforschung und Organisationsgestaltung“ am Psychologischen Institut der Universität Heidelberg und Leiter des MEgA-Projektes. Schwerpunkte seiner Forschung sind u. a. Gestaltung zeit- und ortsflexibler Arbeitsformen, Change-Management, Gesundheit am Arbeitsplatz und Kompetenzentwicklung.
Das Interview führte Betty Busam